Morgenlatte. – Einen Moment lang stand ich heute bewegungslos über der Schublade. Ich hatte den Besteckkorb der Spülmaschine in der Linken und wusste nun irritiert nicht, wohin mit den Gabeln. Sie hatten doch immer ganz links im Fach mit den Messern gelegen! Und rechts daneben, in dem länglichen, aber schmaleren Fach hatten doch immer die Löffel gelegen, mit einigem Recht für sich allein, da sie mit ihren breiten Mäulern mehr Platz beanspruchten, wenn nicht sogar mehr als die anderen beiden zusammen: die schlanken Messer und die gegen die Löffel filigran durchbrochen erscheinenden Gabeln. Ein Löffel neben einer Gabel und einem Messer: Das mag noch hingehen als ästhetisch stimmiges Trio, in dem jedes seinen Charakter in den Dienst der kleinen Gemeinschaft stellt. Aber ein Haufen von zehn Messern in einem Schubladenfach, das jäh ans Licht gezogen wird, gleicht doch eher einem unübersichtlich wimmelnden Haufen von über- und untereinander hinkriechenden Kellerasseln unter einem Stein oder einer Tonne, während mehrere Messer nebeneinander liegen wie schlanke Frauenkörper auf Handtüchern am Strand.
Mit diesen Bildern im Kopf würde ich nicht bis in alle Ewigkeit, den Besteckkorb in der Hand, über der Küchenschublade stehen wollen. Die Bilder ließen sich nicht in eine erzählbare Ordnung bringen, aber, so spürte ich, die Verwirrung der Bilder in meinem Kopf allein konnte meine Irritation über der Schublade nicht erklären.
Also schob ich die Bilder in meinem Kopf zur Seite und versuchte, nun klarer auf die Besteckfächer zu blicken. Jetzt sah ich es deutlich: Die Löffel lagen nicht mehr rechts allein im Breitmaulfach, sondern links vermengt mit den Messern, welche an Ort und Stelle geblieben waren. Die Gabeln jedoch waren – ebenso unbemerkt von mir – stickum hinübergezogen in das alte Fach der Löffel. Wie und warum hatte dieser Wandel sich vollzogen, hatte ich mich nun zu fragen. Es konnte doch nur ich gewesen sein, der über die letzten Wochen Löffel und Gabeln hatte ihre Plätze tauschen lassen. Aber ich hatte davon nichts gemerkt. Hatten die Löffel den Anfang gemacht, den ersten Schritt nach Westen getan und dadurch Unruhe unter den Gabeln gestiftet, die, durch Platzmangel zu einer noch ungeahnten Erfindung genötigt, im Osten sich auftuenden Raum zu vermuten keinen Anlass hatten, aber sich trotzdem dorthin aufmachten, denn welche andere Wahl hätten sie gehabt?
Um dort tatsächlich ein leeres Fach vorzufinden, ausgelöffelt von den breiten Mäulern der jetzt ungebeten Ausgezogenen.
Als ich kam, über der Lade zum Stehen, war alles schon vorbei. Große Migration, Unterwanderung und Kontermigration. Der Wandel war vollzogen. Durch meine Hände. Aber ebenso durch meine Hände hindurch. Ich unbewusster Helfershelfer war Handlanger des Wandels geworden. Keine einzige der vielen Fragen darum würde ich je herauskriegen. Mir blieb nur vorbehalten, die Lade zu schließen und weiterzugehen. Zu einer zweiten Handlung des Tages.