Das hiesige Verständnis von Kunst bleibt noch zu beschreiben, geschweige zu bestimmen; eine Zwischenbilanz am Ende einer Reise, die der Musik gelten sollte. Musik fand ich fast keine irgendwo. Ich hatte tatsächlich Jahre lang einer Reise nach Dakar in dem leeren Glauben entgegengefiebert, hier im musikalischen Eden Westafrikas zu landen. Der Schock wäre groß gewesen, wäre ich nicht von der fiebrigen Luft sogleich eingelullt worden und wären meine Augen nicht von Anfang an randvoll gelaufen von Farben, Staub und Formen. Ich verlegte mich also auf die sichtbare Kunst, so weit mein Auge reichte.
Zwei abgetragene Paar Jeans hatte ich mitgenommen. Hosen, die ich gern getragen hatte und die ich nicht weniger liebt, als sie allmählich verschlissen. Die zwar von meinen Märschen Löcher davongetragen hatten, die ich aber dennoch nicht als zerschunden, sondern durchaus als wertvoll empfand. Ich wollte in Afrika nicht mit Hosen umherlaufen, denen der Kaufpreis von hundert Euro oder mehr anzusehen war. Ich wollte unauffällig bleiben, so gut es ging. Aber ich wollte mich auch wohlfühlen, und in diesen alten Hosen fühlte ich mich immer gut, sie hatten sich meinem Körper angepasst, sie waren ein Teil von ihm geworden und also auch, zugekniffenen Auges, ein Teil von mir, einfach weil sich dieser Ausspruch so gern hergibt wie ein hingehaltenes snickers. Die Aussicht darauf, die Hosen in Afrika zu lassen und so in der Reisetasche Platz zu schaffen für Mitbringsel, dieser Gedanke spielte auch eine Rolle bei den haushälterischen Vorbereitungen, die ausschließlich in meinem Kopf stattfanden, einkaufen wollte ich vor Beginn der Reise möglichst nichts. Ich hasste es, wenn sich Leute lautstark darin gefielen, vor ihren Reisen mit Sonnenkrem, Lektüren, Behebungen eventueller Reisebedürftigkeiten einzudecken und dafür am besten noch einen Tag frei zu nehmen. Alles, was ich hierzu mitteilen möchte, ist, dass ich die beiden Hosen wieder mit zurückbrachte. Anders als die onitsuka-tigers, die ich im Hotel einfach stehen ließ, versäumte ich den Moment, mich von den Jeans zu trennen. Und so fragte ich am letzten Tag einen Schneider, dessen warm erleuchtete Höhle mich schon mehrere Tage neugierig gemacht hatte, wie er meine löchrigen Hosen stopfen könnte. Er zeigte mir bunte Stoffe, die er hinterlegen würde und ich hatte keinen Grund zu zögern. Außerdem kaufte ich noch ein halbes Dutzend handgemalte Postkarten von seinem Onkel, die ich teils verschickt habe und ansonsten zu meiner eigenen Belustigung und zum Nachdenken und Hinterherdenken an die Reise schon einige Male aus der Schublade geholt habe. Die Hosen aber liegen nun, mit noch mehr bunter Geschichte versehen, ganz oben in meinem Schrank, da, wo ich nicht so ohne weiteres hinreiche, aber die Bücher hoch oben in den Regalen werden auch mehr aus Respekt und für die Zeitlosigkeit verwahrt, nicht zur täglichen Bekleidung seiner Gedanken.
Vor Antritt der Reise hatte ich ein bisschen schubweisen Schiss gehabt. Ziemlich unbegründet, wie ich bald feststellen konnte. – Wobei hier natürlich ein statistischer Faktor zu bedenken ist: Mir ist nichts passiert, von den vielen Menschen, die mir auf den Straßen zum Teil sehr nahe gekommen sind, hat keiner die Hand zu weit und zu fordernd nach mir ausgestreckt, niemand hat mich ins Dunkel gezerrt, was oft einfach gewesen wäre und, wie ich in einigen Momenten spürte, auch sehr naheliegend. Etwa, wenn ich mit meinem Telefon Fotos machte, dazu stehenblieb über einer Menschenansammlungssituation, die aus nichts bestand als aus reiner Bewegung. Aus der ich also herausragte und so zu einem Störenfried wurde, den ein einfacher Instinkt durchaus mit Recht hätte beseitigen können.
Erwartet im positiven Sinn, also erhofft hatte ich mir: Dass in der Nacht aus allen Häusern heraus Musik auf die Straße herausfallen würde. – Aber es blieben alle Verschläge zu. Viele jener so unbedachten wie bedeutungsvollen Bewegungen meiner Berliner Winterabende, mit denen das erneut aufgefüllte Weinglas an die Lippen gesetzt wird, war letztens begleitet von der Vorstellung an offene Bars in den Straßen Dakars, deren Innenraum zugleich der Straßenraum war und umgekehrt, die die Menschen unter freiem Himmel tanzen ließen. Dieser eine immer wieder von mir taggeträumte Gedanke befand sich unter meinen immer wiederkehrenden Träumen im größten Konkurrenzverhältnis zu jenem Traum von Salvador de Bahía, und bis zu meinem tatsächlichen Ankommen in Dakar hätte ich keinem der beiden Träume auch nur den leisesten Vorsprung zuerkennen wollen.

Die Älteren haben oft einen leuchtenden, vielleicht erleuchteten Blick. – Aber ich springe ja schon, bevor ich überhaupt richtig angefangen habe…
… ich weiß nämlich nicht, wie ich anfangen soll. Und das passiert mir nicht zum ersten Mal. Aber es entspricht tatsächlich auch meiner Reise, die ich auch nicht bewusst oder gesteuert oder vorbereitet angefangen habe, sondern – so erlaube ich mir etwas schwülstig zu formulieren, weil ich ja ganz allein bin – der ich mich ausgesetzt habe in dem Wissen, dass ich viel zu klein bin um abzuschätzen, ob sie gelingen würde, ob ich sie überleben würde, ob ich ein Spielball mir völlig unbekannter afrikanischer meteorologischer weltanschaulicher lebensbedürftiger Zwänge Bedingungen werden würde. Ich ließ mich darauf ein, wie man in einen Kugelhagel geht und hofft, die Kugeln so nah am Ohr entlang vorbeischwirren zu hören, dass mehr Spannung aufkommt als bei netflix. Undsoweiter Leute ihr wisst, was ich meine.
Der Geruch des senegalesischen Deodorants ist aufdringlich. Am dritten Tag hatte ich bei meinem zweiten Besuch eines Auchan-Ladens in Dakar den billigsten Deo-Stift gekauft, nachdem mir am Röntgenband am Hamburger Flughafen mein eigenes abgenommen worden war und ich die ersten sehr heißen Tage mit der Kernseife des Hotels experimentiert hatte, mit mäßigem Erfolg. Beim Check-out im Auchan kam ich noch an der Kaffeetheke vorbei, wo ich einen wichtigen Fund machte: Der Kaffee schmeckte später zu Hause fürchterlich, aber das logo auf der Verpackung zeigte ein geographisch-geschichtsphilosophisches Selbstverständnis, das mich sehr an Fernando Pessoa erinnerte. Auf diesem Café-Logo ist der Senegal ausgedrückt als Gesicht Afrikas, das nach Westen blickt. Genauso drückt Fernando Pessoa Portugals Mission oder Situation in Europa aus in einem schönen Gedicht. Er sieht Europa liegend auf dem rechten Arm (Italien), während es den linken (England) in die Höhe streckt und mit dem Gesicht (= Portugal) „sphinxhaft und fatal“ nach Westen starrt, in die „Zukunft der Vergangenheit“:
A Europa jaz, posta nos cotovelos:
De Oriente a Ocidente jaz, fitando,
E toldam-lhe românticos cabelos
Olhos gregos, lembrando.
O cotovelo esquerdo é recuado;
O direito é em ângulo disposto.
Aquele diz Itália onde é pousado;
Este diz Inglaterra onde, afastado,
A mão sustenta, em que se apoia o rosto.
Fita, com olhar esfíngico e fatal,
O Ocidente, futuro do passado.
O rosto com que fita é Portugal.
Strand bedeutet hier eben etwas völlig anderes: Fußballspielfeld, vorübergehender Liegeplatz für die Pirogue. Und hier für die Schlafmützen, die es noch nicht gesehen haben, ich erzähle euch eine andere, aber GENAU so wahre Geschichte.
Der Platz drinnen ist den Weintrinkern und Serviettenbenutzern vorbehalten, die bis vor zwei Jahren, dann aber nicht mehr, von weit her kamen und etwas Geld brachten. Das Bild hat aber eine schlechte Auflösung, und wie zerlöcherte Unterhosen kann man da nichts mehr stopfen. Ich muss also entweder mit dem grand taxi nach Dakar fahren und mir neue Unterhosen nähen lassen oder aber nach dem Originalfoto suchen und es hier einfügen.
Hier wollte ich eigentlich, ANLÄSSLICH MEINER NICHT SPAZIERGÄNGE ZU NENNENDEN RUNDGÄNGE DURCH DAKAR etwas mitteilen, was mir allerdings bisher nicht gelingen konnte, und zwar meine THEORIE DES VORANKOMMENS NACH DEM MODELL DER TRAMPELPFADE, weshalb ich stattdessen vorläufig hier die UNGESCHRIEBENE UND DESHALB UNIVERSELL GÜLTIGE HIERARCHIE DER VERKEHRSMITTEL IN DAKAR gebe:
- schwere gepanzerte Militärfahrzeuge, darauf kauernd uniformierte Männer, die Maschinengewehre im Anschlag halten, während sie beständig Augenkontakt mit den Fußgängern suchen, als ob diesen ihr Anrecht auf die Passage zu Fuß angezweifelt würde (und die ich nicht einmal zu fotografieren wagte, während mir sonst die Dreistigkeit die unwiderstehlichste Versuchung vor dem Knipsen ist)
- LKW mit freiliegenden Doppelreifen, mit Motorenabgasen ungefiltert Menschen herablassend einräuchernd und mit Motorenlärm sie anfauchend, dass sie sich den kaum zur Verfügung stehenden Straßenrand gefälligst teilen, wo doch das Unteilbare nicht mehr teilbar ist, wie jeder wissen sollte
- kaputte Busse, die Herbeilaufende wohl oder übel aufnehmen, wenn diese herbeispringen im Schritttempo. Busse, die bei uns kaputt wären, aber die hier immer weiter fahren, mit allen ihren losen Einzelteilen, die doch nicht abfallen.
- kaputte Taxis, die noch loser und schrammeliger daherkommen als die Busse, in die man aber Gäste beim Einsteigen aufrichtige Würde annehmen sieht.
- Die Hierarchie endet hier untenwärts. Obwohl die meisten Verkehrsteilnehmer noch fehlen. Sie folgen nun auf dem Fuße, ohne Anschluss zu finden.
Langeweile ist das Schlimmste auf der Welt. Aber man darf es in den meisten Umgebungen nicht sagen. Weil sich die Leute so viel Mühe gegeben haben, sich fein zu machen für dieses besondere Ereignis. Dieses besondere Ereignis ist aber genauso langweilig wie das letzte, also das gestrige oder das vorletzte.
Dass man – vor allem auf Reisen – eben noch nicht wusste, welche kleine Geschichte man sodann erleben und fünf Minuten später bereits aufgeschrieben haben würde; diese Unvorhersehbarkeit macht das Reisen
- unterhaltsam und spannend
- voll mit Hoffnung
- zu schönem Gleichnis auf den Gesamtverlauf des Lebens.
Man vergisst dies leicht, wenn man länger nicht gereist ist.
Ich weiß nicht, ob es damit zusammenhängt oder davon ablenkt, wenn ich in einem nächsten Gedankengang mich wie einen Paljaz durch Dakar auf und ab laufen sehe wie durch eine Zirkusmanege, als ginge es darum, mich vor mir selber oder vielleicht sogar vor den übrigens tausenden, fast millionenfach kreuz und quer durch Dakar laufenden Einheimischen zu zeigen, zu inszenieren, als gelte es, meine Bewegungen als Bestätigungen ihrer Bewegungen durch die Stadt als Markt aufzuzeigen. Ein dummes, uneinsichtiges, dazu als Nachricht überflüssiges, wenn nicht moralisch überzogenes Unterfangen. Denn ich bin ja hier der Unerwartete, der Unpassende, der Nichthingehörende, während alle Anderen ja nichts als hier die Erwarteten, die Passenden, die absolut Hingehörenden sind. Der Passende ist dadurch der Passendste, dass er nirgendwo anders hinpasst und hingehört. Es gibt nur diesen Ort hier auf diesem sogenannten Sandaga-Markt, für den Anderen nur diesen Busfahrerplatz auf der Linie Corniche auf und ab von Ngor nach Plateau und zurück, ohne dass zwischen den Abgasen und dem unausgesetzten Gewühl der Fahrgäste Ngor oder Plateau oder das Monument de la Renaissance Africaine jemals auch nur schimmerhaft vor die Augen oder gar den Geist jenes Busfahreres mehr zu gelangen vermöchten.
Aber dass die Fahrt mit dem Bus von Nord-Dakar nach Süd-Dakar etwa zwei Stunden dauert, das wird er doch wohl bemerken, oder nicht? Wenn er es nicht schon gehört hat, denn ich habe es ja oben schon einmal beiläufig fallen lassen.
Obwohl 95 Prozent der Senegalesen Muslime sind, geben sich die allermeisten Frauen ziemlich freizügig in der Öffentlichkeit.
Vor der Kathedrale lag letzte Nacht offen eine kleine Brieftasche. Solche Funde erinnern stets an das gleiche Täterverhalten: Nachdem das Geld entwendet ist, wirft man solche ausgeweideten Beutebeutel mit dem Ausweis zur Ansicht gewendet an einen sichtbaren Ort, um Resthumanismus vorzuzeigen. Dieser war der Ausweis eines Zwanzigjährigen aus Dakar-Rufisque. Ein hübsches männliches Gesicht, dem die numerisch angegebene Körpergröße von 150 cm nicht anzusehen war. Alle weiteren Fragen stehen aufgeworfen im Raum. Sie sind auch an Jesus gerichtet.
***
Wegen des hohen Planktonanteils und der hohen Temperatur sei das Meer hier besonders fischreich, erzählte mir der Wirt, der mich nach dem Abendessen einfach so zu einem Spaziergang eingeladen hatte, weil er mir unbedingt den Strand zeigen wollte. Vielleicht ist das der Grund, warum die Fischerboote so viel größer sind als am portugiesischen Atlantik, dachte ich. Welchen anderen Grund könnte es dafür geben, dass an der fast spiegelgleichen Küstensituation zweieinhalb Tausend Kilometer südlich Lusitaniens die Fischer mit derart überdimensionierten Geräten den Fischen hinterherfahren. Und während übrigens die Portugiesen mit Traktoren den Strand auf und ab ihre viel kleineren Boote ziehen und einholen, muss man im Land, das zwar Schienenstrangnetze, aber keine einzige Lokomotive sein Eigen nennt, auch an den Stränden auf die Hilfe motorisierter Schlepper gänzlich verzichten. Die tonnenschweren Pirogues werden, über untergeworfene Gummireifen gehebelt, umständlich von einem Dutzend Männern auf Kommando ins Wasser gelassen, während sie ankommend den Schwung von der Fahrt nutzen und krachend in den Sand fahren, bis sie, nach einer Sekunde des in der Luft Stehens, auf eine Seite plumpsen.
St. Louis liegt an der Mündung des Senegal (Flusses), der die Grenze zu Mauretanien bildet. Seine Kolonialgebäude gehen seit hundert Jahren aus dem Leim. Stehen da so verloren herum, als käme ihnen schon lange keine Funktion mehr zu. Notdürftig werden sie mit merkantilem Zweck befüllt. Hier eine Galerie, die Masken aus dem Hinterland oder Schmuck aus Mauritanien im Innern, geschützt von der staubigen Straße, wo die gleichen Sachen für den Bruchteil des Geldes nicht zu verkaufen sind, während hier drinnen im klimatisierten Kolonialraum ein frankophones Gespräch zwischen dem Kunsthändler und dem Kunden, einem Mitarbeiter einer französischen Entwicklungsorganisation, wie auf dem mit laufendem Motor vor der Galerie wartenden four-wheel-Dienstwagen zu lesen steht, schnell zum Handel führt. Die Weißen machen den Reibach unter sich, wir schreiben das Jahr 2021, weltweit führt man nicht nur an den Universitäten Dekolonisierungsdebatten, und hier stehe ich vor dem Dienstwagen und werde Zeuge, wie der Chauffeur im Boubou seinem Toubab die Wagentür aufhält, damit der ein schnelles Geschäft während der Dienstzeit schiebt, Auslandszulage obendrauf oder untendrunter der Zunge, die ich zum Galeristen, der ihn an der Tür empfängt, sagen höre: „Versuchen Sie es bei mir nicht mit Phantasiepreisen, ich bin kein Tourist, kenne mich aus, also: Was kosten diese (riesigen) Masken und jene Teppiche dort?“ Die Prefecture ist eine Prefecture ist eine Prefecture. Auch heute. Und auch morgen noch!
the frontier of the souvenirs. La blessure. Fuck Maurice: write again if you want… If not, Maurice will forgive me. |
Poste restante à St. Louis. Ich bin eingetreten in die Post von Sr. Louis, um was zu tun? Ich trete in den großen Raum der Eingangshalle… ich atme auf, es ist kühler als draußen, wo man vor stehender Hitze nicht zum Denken nicht zum Überblick kommt, wo man nur immerzu denkt: Weg von hier, irgendwo reingehen! In ein Café, einen Stoffladen, so viel Auswahl gibt es nicht. Im Postamt öffnet sich ein großer Raum, der viel höher ist als die Rahmungen um die Schalter. Der große Raum fragt mich still nach meinem Begehr. Ich habe keins. Und gehe gleiche nach links ab von der Bühne.
Was ich aus dem Bus vom Flughafen in die Stadt sehe: Offene Rohbauten, blinde junge Männer, die Nüsse in Tüten an Autos und Bussen entlang anbieten, Menschen auf staubigen Plötzen wartend, in den Straßen der Müll, viel hoch auf dem Kopf Aufgetürmtes, was zu sehr eleganter Körperhaltung (ver-)führt; bei Einbruch der Dunkelheit legen sich Menschen zur Nacht am Straßenrand auf die Pappe. All das befremdet mich nicht, ich kenne es längst aus Manila, HCMC, Phnom Penh. Das Erstaunliche hinter meiner Gleichgültigkeit ist aber, dass die Armut überall gleich aussieht. Ihr Design ist suprareligiös, supranational, stärker als jede Weltgegend und stilsicher über alle Grenzen hinweg.
***
Das Meer und der Müll – keine schöne Geschichte.
Kapitel I: Die Realität der Geschichte
Kapitel II: Pulp fiction
Kapitel III: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
***
Diesen Mann, der für immer auf dem Boden Afrikas steht und seinen Stock in der Hand hält, bereit, nichts und alles zu tun, entzifferte ich erst nach meiner Abreise aus Afrika aus einem kleinen Fleck, der mir auf einem Foto aufgefallen war. Mein letztes Bild hier, mein ewiger Afrikaner.
Thiès, was bist du nur? Hätte ich dich vorher schon gekannt, müsste ich wohl fragen: Was ist aus dir geworden, meine Thiès?
Schaut auf Madagaskar! – Nach einigen Tagen unausgesetzt von allen Seiten auf mich einprasselnder Eindrücke beginnt sich mein Wahrnehmungsverhalten umzustellen. Ich sehe nun an abbröckelnden Häuserwänden in Schleiern tanzende Frauen und aufsteigende Flaschengeister, im Ölspurenverlauf auf dem Asphalt erkenne ich geographische Formen von Ländern ganz genau wieder, bevor ich mich zu fragen beginne, ob es dieses Land überhaupt gibt. – Überhaupt der Kontinent! Ich kann mein Rührei beim Frühstück nicht anschneiden, denn vor mir liegt der Umriss von Afrika sandgelb über der breiten Mitte, weiter südlich grüne Paprikastücke, ganz oben über der Sahara einige Rif-grüne. – Oder liegt mein Erkennungswunder an der fortschreitenden Dehydrierung, frage ich mich und will mit mir kritisch sein, bevor ich das Rühreifoto in einem Hand und Fuß entbehrenden Enthusiasmus nach Europa schicke, wo man mich vielleicht auslacht oder zumindest den Kopf, auf diese Weise eine längst gehegte meine Person betreffende Ahnung bestätigend, schüttelt.
Der mir die durchlöcherten Schals zu überhöhtem Preis andrehte, indigniert tuend ob meiner Zweifel über die Angemessenheit desselben.
La seule chose qui manque ici est un solo de guitare.
Vielleicht werde ich mein Auto, wenn ich es einmal nicht mehr in Berlin fahren darf, hierher bringen, um es hier zu verkaufen. C´est pas égal. Bei solchem Anblick fühle ich mich bestätigt, dass es nur eine wirkliche Automarke geben kann.
***
Nach langen Verhandlungen des Sicherheitsbeamten mit dem Taxifahrer über den Preis meiner Fahrt von Thiès zum Flughafen Blaise Diagne erklärte sich dieser, ein wie ich bald erfahren würde sechsmaliger Vater, mit 10.000 CHF einverstanden. Wir befanden uns an der großen EDK-Tankstelle am südwestlichen Stadtausgang, wo ich vier Stunden zuvor dem Bus St. Louis – Dakar entstiegen war, als Einziger und mich so verloren gefühlt hatte wie wirklich schon lange nicht mehr. Aus dem Inneren des einigermaßen klimatisierten Busses war ich mit meiner schweren Umhängetasche gleich in den Lebensmittelmarkt, der zur Tankstelle gehörte, auf der Suche nach Schutz vor Sonne, Ausgeliefertsein, Fremdheit. Ich weiß nicht mehr, ob ich auf den jungen Beamten mit der Sonnenbrille zugegangen war oder ob er meine Not schon von Weitem erkannt hatte, jedenfalls bot er mir sogleich an, ich könne meine Tasche zu seinen Füßen abstellen, er werde aufpassen, ich könne etwas trinken können und auch die Stadt erkunden. Dieser hoch aufgeschossene junge Mensch war der einzige im ganzen Senegal, der für eine zunächst als Freundschaftsdienst ausgegebene Hilfestellung am Ende nicht die Hand aufhalten würde. Deshalb bekam er von mir ein rotes Spielzeugfeuerwehrauto für seinen Sohn. Gut zwei Dutzend solcher Autos aus dem Bestand meiner eigenen Familie hatte ich in den vergangenen Tagen abgegeben. Spielzeugautos sind für erwachsene Afrikaner, denen man als erwachsener Europäer in Afrika begegnet, nicht unbedingt passende Geschenke, und eben das war der Grund, warum ich von den meisten meiner Gesprächspartner Anzahl, Geschlecht und Alter ihrer Kinder erfragte.
Mein Taxifahrer, ein älterer Herr, steuerte im Losfahren als Erstes die nächste Zapfsäule an und stoppte den Wagen, kaum dass wir fünf Meter gefahren waren. Er drehte sich zu mir im Fond Sitzenden um und sein Gesichtsausdruck sagte, er habe kein Geld zum Tanken. Er sprach: L´argent s´il vous plaît. Ich gab ihm die Hälfte, also 5000 CFA. Nun war ich gespannt, für wie viel er tanken würde und sah ihm durch die sandig-staubige Scheibe beim Tanken zu. Bei 2000 stoppte er, das waren knapp drei Liter. Der Flughafen lag 25 km entfernt, er würde es also kaum zurück nach Hause schaffen, fiel mir auf. Wichtiger aber war offenbar, dass er 3000 francs vorhielt, vielleicht für den Abend mit der Familie oder um eine Schuld zu begleichen. Als er nach dem Tanken einstieg und losfuhr, war er ein anderer Mann: Er war jetzt ein Seigneur, der einen Wagen fuhr, der Kopf war jetzt höher gehalten, die Sorge, an der nächsten Ecke stehen zu bleiben und, wie es bestimmt schon oft, zu oft, passiert war, er mit einer Plastikflasche zur nächsten Tankstelle würde laufen müssen um einen halben Liter Benzin und zugleich den aktuellen Fahrgast verlieren würde, der jetzt wütend ausstieg und dieses Taxi als untauglich verschrie… Und dessen Fahrgeld er verloren hatte, also wovon bezahlen den halben Liter Sprit, dem ich jetzt entgegengehe? Ach, vielleicht war mein Taxifahrer schon oft auf einem solchen Weg umgekehrt, hatte das Taxi mit leerem Tank am Straßenrand gesichert und war nach Hause gelaufen, wo auf einen kleinen Trost doch wohl noch zu hoffen war, oder? Nachdem ich hinten rechts im Taxi Richtung Flughafen diesen Gedanken durchlaufen war, verstand ich besser, warum mein Fahrer jetzt vergnügt drauf los fuhr: Diese Sorge war für diesen Lebensmoment genommen. Obwohl er nicht wissen konnte, wie es weiterging. Denn am Flughafen war er offenbar noch nie gewesen, wie ich bald bemerken sollte. Aber zuerst galt es, die Notdurft zu verrichten. Auch Taxifahrer müssen sich gelegentlich erleichtern. Und da er mit mir zum ersten Mal für heute in eine ländliche Gegend außerhalb der Stadtgrenzen kam, war dies die erste beste Gelegenheit.
Wie bringe ich das, was ich erlebt habe und was mich weitergedreht hat auf meiner Lebensuhr, nur unter, in welcher Form, Schwingung oder auf Papier? Ich denke: Dakar Den Dikk, das hast du vor kaum zehn Tagen in dein Notizheft geschrieben mit Begeisterung, weil es dir nicht nur etwas bedeutet hat, dieser alliterierende Ausdruck, sondern weil es dich prägte in dem Moment, da du es als Schriftzug in Afrika erblicktest und es zugleich dich begeisterte und in dir zum Klingen kam, es in dir ein Konzert auslöste so: Du sahst es und es klang schon aus dir heraus, weil du ganz in dieser afrikanischen Welt warst. Und jetzt, wieder in Europa, bist du mit den Dingen, die du vor Afrika hin- und herverlegt hast, jetzt der gleichen Weise beschäftigst, du legst sie hierher und dann dorthin, als wäre kein Afrika gewesen, und aus dem gleichen Grund liest du Dakar Den Dikk in deinem Notizbuch und es ist, als ob du läsest das tagesaktuelle Angebotsblatt des Supermarkts bei dir um die Ecke. Gestern Abend in der Sauna kam mir der Gedanke an eine Erzählung: Ich sei von einer amerikanischen Agentur nach Afrika geschickt worden, die auch nicht wusste, was von dort von mir wollte. „Wir haben so lange nichts von dort berichtet, unser letzter Artikel war dies und das… Und bevor die Anderen herauskommen mit einem großen Ding, das die ganzen zwei verdammten Corona-Jahre von allen verschlafen wurde, fahren Sie doch bitte unbedingt mal hin und schauen, ob Sie dieses Ding nicht finden, das unsichtbar ist und doch da sein muss! Wir warten hier besser nicht auf Godot!“ – Heute denke ich, ob literarisch oder dokumentarisch, ob hymnisch oder trocken, ob apologetisch oder verzweifelt, es müsste in meinem Text mit meinen Bildern eine Krümmung sichtbar werden, die Afrika für mich bedeutet hat in dieser Woche und die es für mich weiterhin bedeutet aus dieser Woche heraus. Krümmung heißt: Ich schaue auf mein früheres Selbst wie auf mein vor der Reise bestehendes Afrikabild nicht mehr gerade zurückschauen. Dazwischen liegt eine Krümmung, die mir das Frühere verstellt. Eine Veränderung, aber auch eine Bereicherung. Die Verstellung als Bereicherung. Die Behinderung der einfachen Sicht als komplexe Erneuerung. Afrika jetzt als gekrümmte Verstellung. Afrika ist mir jetzt verstellt. Das was vorher schwarz-weiß war, ist jetzt verstellt.
Warum Krümmung: JETZT bitte die Gedanken über das Gehen einspielen, die das Gehen als Bewegung im Raum als Zickzack verstehen und nicht die kürzeste Bewegung zwischen zwei Punkten!
Ich hatte auch das Heideggerbuch von George Steiner dabei, es passt gar nicht zu meiner Reise vorderhand, dachte ich, aber nachher und auch schon im Flugzeug fing es wunderbar an zu passen, und jetzt, da die Zukunft zur Vergangenheit wird, brauche ich nur zwei Zeilen im Buch zu lesen und schon fallen mir die senegalesischen Gedanken wie Schuppen vom inneren Auge.
Ich hatte auch den Heideggergeruch dabei, der, gepaart mit dem billigen Auchan-Deodorant über dem Madagaskar-Rührei, meinem spekulativ-methangasigen Geschreibsel einen interessanten Werf-Dich-Weg-Odeur beimischte.
(Ouattara Watts)
Afrik
Die Europäer haben die Uhr erfunden, aber die Afrikaner haben die Zeit.
Männer in langen Gewändern, ohne Priester zu sein.
Kunst aus recycltem Material, ohne durchdacht zu sein.
Noch junge Frauen schon mit dickem Puffer, ohne dabei häßlich zu sein.
Armut, ohne dabei nicht irgendwie anmutig zu sein. (amoralischer Gedanke!)
***
Widerspruch, denkwürdiger. — Die Berliner Ethnologische Sammlung besteht aus mindestens 75.000 Artefakten, die aus Afrika stammen. (Gegründet 1873 als Königliches Museum für Völkerkunde, umfasst es ca. 500.000 Objekte aus Afrika, Amerika, Asien und Australien sowie etwa ebenso viele Ton-, Bild-, Film- und Schriftdokumente.) Im Afrika-Museum in Dakar hingegen, das ich als einziger Besucher betrat und in dem auch niemand hinzukam, während ich da war, zählte ich insgesamt kaum mehr als 70 Ausstellungsstücke.
18:30:41
Stumm blieb die Gasse,
denn:
Afrikanische Kunst verkörpert.
Europäische Kunst stellt dar. Wenn man das verstanden hat, sieht man vieles hier klarer.
Hier kannst du den Musiker anklicken, der mir in Dakar aufgespielt hat.